Rezension: Bahnwärter Thiel von Gerhart Hauptmann


"Bahnwärter Thiel" von Gerhart Hauptmann ist ein deutscher Klassiker aus der Epoche des Naturalismus. Obwohl die Erzählung nur etwas mehr als 50 Seiten umfasst, vermag Hauptmann die Tragödie des Bahnwärters detailreich und anschaulich zu beschreiben.

Der gläubige Bahnwärter Thiel ist zwei Jahre lang mit der feingliedrigen und blassen Minna verheiratet. Doch dann verstirbt sie auf dem Wochenbett und Thiel muss allein mit seinem Söhnchen Tobias zu recht kommen. Das ist für Thiel zu viel und so heiratet er bereits nach einem Jahr die ehemalige Kuhmagd Lene, damit sich jemand um Tobias kümmert. Doch schnell muss Thiel feststellen, dass er in eine Abhängigkeit von Lene gerät, aus der er nicht mehr entkommt. Er findet nicht einmal mehr die Kraft und den Mut, sich gegen seine Frau aufzulehnen, als er sie dabei ertappt, wie sie Tobias schlägt. Thiels Situation verschlechtert sich zusätzlich dadurch, dass er sich immer öfters mit Träumen und Visionen seiner verstorbenen Frau Minna konfrontiert sieht. Das Unheil nimmt seinen Lauf, als Lene Thiel mit Tobias und ihrem gemeinsamen Kind zur Arbeit begleitet. 

Naturalistische Elemente der Erzählung
Bevor ich mich zum Inhalt des Werks, dessen Symbolik und möglichen Interpretationsansätzen äussere, möchte ich zuerst auf die Einordnung in die literarische Epoche zu sprechen kommen. "Bahnwärter Thiel" wird dem Naturalismus zugeordnet. Dies aus folgenden Gründen: Wie es sich für den Naturalismus gehört, steht das Milieu, in dem sich der Protagonist Thiel - typischerweise ein Antiheld -  befindet, im Zentrum der Erzählung. Wie es für naturalistische Texte typisch ist, liefert auf Hauptmanns Text genaue und detailreiche Beschreibungen und der Hauptcharakter ist von seiner Umwelt geprägt. Ebenfalls erfüllt "Bahnwärter Thiel" das Kriterium der bewussten Betonung des Hässlichen, wodurch die Leserschaft aufgerüttelt werden soll. Zudem bedient sich Hauptmann oft des formalen Mittels des Sekundenstils, bei dem die Beschreibung im Werk sich mit der tatsächlichen Handlung zeitlich decken. Ein typisches Element des Naturalismus.
Dennoch passt nicht ganz alles, was Hauptmanns Werk auszeichnet, zum Naturalismus. Eher untypisch ist das Fehlen von Umgangssprache und Jargon, sowie die komplexe, psychische Ausmodellierung von Thiels Charakter. Normalerweise sind die Personen stereotyp gemäss ihrer Milieuzugehörigkeit gehalten. Das ist in "Bahnwärter Thiel" nicht der Fall. Genauso verwendet Hauptmann oft Metaphern, Naturbilder und mystische Elemente, was ebenfalls untypisch ist für den Naturalismus.

Zug-Symbolik und Wahnsinn
Das zentrale, symbolische Element dieser Erzählung ist der Zug. Dieser steht stellvertretend für die technischen Entwicklungen, die um die Jahrhundertwende tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen nach sich zogen. Erstmals lebten mehr Menschen in den Städten als auf dem Land. Entsprechend waren die Verhältnisse in den Städten prekär. Es gab zu viele Menschen, zu wenig Wohnungen, wenig Arbeit und als Folge daraus wuchs die Armut. Naheliegend ist daher, dass die Menschen der neuen Technik eher skeptisch entgegenblickten, ja sie sogar fürchteten. Diese Angst kann dem Text entnommen werden, vor allem in den Passagen, in denen Hauptmann die Eisenbahn beschreibt. 
Die Technik und die Maschinen prägen auch den Inhalt und den Tagesablauf der Menschen. Das zeigt sich wiederum an der Person von Thiel, der jeden Tag zur selben Zeit zur Arbeit und zur gleichen Zeit den Bahnübergang sichern muss. Ebenfalls im Zusammenhang mit der Eisenbahn kann die zerstörerische Kraft der Maschinen gesehen werden. Thiel wurde einmal von einer aus dem Zug geworfenen Flasche verletzt und zudem - das ist der offensichtlichste Fall - ist sein Sohn Tobias wegen der Eisenbahn gestorben. 
Ein weiteres wichtiges Element ist der Wahnsinn, den Thiel befällt. Hauptmann braucht nicht viele Worte und Seiten, um die feinen und sich stetig verstärkenden Symptome zu beschreiben, welche für die Entwicklung der Krankheit stehen. Thiel kann sich aus dieser Negativspirale nicht befreien, er hat die Kraft dazu nicht. Er ist von seiner Umwelt, seiner Familie und seiner Milieuzugehörigkeit determiniert (ebenfalls ein typisch naturalistisches Element). So steuert Thiel wie ein Zug auf Schienen, auf die Katastrophe zu, die im Doppelmord und der anschliessenden Einlieferung Thiels in die Psychiatrie gifpelt. 

Obwohl "Bahnwärter Thiel" ein kurzes und einfach zu lesendes Werk ist, bietet es sehr viele Interpretationsmöglichkeiten und ermöglicht einen Einblick in die damaligen Lebensumstände. Sollte man gelesen haben. (fba)


Bibliografische Angaben:

Titel: Bahnwärter Thiel
Autor: Gerhart Hartmann
Seiten: 53
Erschienen: 1888
Verlag: Ullstein
ISBN-10: 354823755X
ISBN-13: 978-3548237558
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